Berufsverband Deutscher Psychologinnen und Psychologen e. V.

„Weg mit der Gießkanne – Was Familien in der Corona-Pandemie wirklich brauchen“- Bericht der Veranstaltung

Am 24. Februar 2022 luden der Wissenschaftliche Beirat für Familienfragen beim Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ) und die Stiftung Ravensburger-Verlag zu einer hybriden Podiumsdiskussion zum Thema: „Weg mit der Gießkanne – Was Familien in der Corona-Pandemie wirklich brauchen“ ein.

Verena Türck-Weishaupt von der Stiftung Ravensburger-Verlag eröffnete die Veranstaltung und entschuldigte Bundesfamilienministerin Anne Spiegler, die aufgrund eines positiven Corona-Tests nicht persönlich dabei sein konnte und durch Marc Nellen vertreten wurde. Sie konstatierte, dass die Veranstaltung für Möglichkeiten und Bedarfe nach Corona geplant war, „nun stecken wir aber noch mitten drin“. Die gemeinnützige Stiftung wurde 2000 errichtet, sie habe Kinder, Familien, Bildung und Forschung im Fokus. Die Forschungsergebnisse sollen Pädagoginnen und Pädagogen  unterstützen und Modellcharakter haben, sie wollen aber auch die Politik beraten und unterstützen sowie gesellschaftliche Aufgaben erfüllen.

Prof. Jörg M. Fegert, Vorsitzender des Wissenschaftlichen Beirats und Kinder- und Jugendlichenpsychiater, begrüßte das Auditorium sowie die Bundesministerin außer Dienst Christine Bergmann (im Amt 1998-2002). Er begann mit der Aussage: „Kinder und Jugendliche sind die ersten Betroffenen von Kriegen“, blickte zunächst in Richtung des Ukraine-Konfliktes, dann auf die lange Pandemie-Phase. Diese habe zu einer Reduktion der Lebensqualität geführt und zu einem Anstieg von Angst- und anderen psychischen Erkrankungen. Die Schere zwischen besser und schlechter situierten Familien sei weiter aufgegangen. Es sollen spezifische Hilfen installiert werden (vs. „mit der Gießkanne“). Der Wissenschaftliche Beirat sei bereits in den 1950ern ins Leben gerufen worden und besteht in der heutigen Fassung seit 1970, dabei stünden Familienfragen im Fokus. Er ruft das Publikum auf, jetzt und auch im Nachgang Fragen zu stellen und sich einzubringen.

Impulsreferate

Stellvertretend für die Ministerin hält Marc Nellen, frischgebackener Abteilungsleiter der Abteilung Familie im BMFSFJ das Eröffnungsreferat. Er fasste die Daten zu den Belastungen durch die Pandemie zusammen und würdigte die Leistungen von Familien und Kindern. Es reiche aber nicht, Danke zu sagen. Es gäbe zwar bereits eine Reihe von Leistungen für Familien, aber es gäbe zu viele verschiedene, die nicht für alle Familien passten – insbesondere nicht für diejenigen, die nur über ein kleines Einkommen verfügen. Hier plane man eine Reihe von Reformen, die unter anderem eine Kinder-Grundsicherung bringen soll. Um kurzfristig helfen zu können, ist ein Kinder-sofort-Zuschlag von 20 Euro ab Juli geplant, der bis zum Abschluss der Reform zur Überbrückung gezahlt werden soll. Außerdem sollen das Gute-KiTa-Gesetz und zusammen mit den Ländern die Ganztagsschulen weiterentwickelt werden. Die Corona-Pandemie sollen Kinder und Jugendliche überstehen ohne langfristigen Schaden zu nehmen, dafür sollen KiTas und Schulen offenbleiben, Spiel, Spaß und Freizeit ermöglicht werden und Beratungsangebote geschaffen werden. Auf das Nachholen-nach-Corona-Paket soll ein Kinder-Zukunfts-Paket folgen, dafür habe es bereits Hinweise vom Wissenschaftlichen Beirat gegeben, die man berücksichtigen möchte.

Prof. Katharina Spieß, Vorsitzende des Beirats, stellte zu Beginn ihres Impulsreferats die Frage, was Familien wirklich bräuchten. Global seien dies Infrastruktur, Zeit und Geld. Eine aktuelle Studie ergibt, dass der Faktor Zeit für alle wichtig sei, Infrastruktur und Geld seien vor allem für Alleinerziehende von erheblicher Bedeutung. Durch die Pandemie sei die Infrastruktur weitestgehend weggebrochen und habe in vielen Familien zu finanziellen Einbußen geführt, die Auswirkungen auf den Faktor Zeit waren sehr unterschiedlich. Unterschiedliche Bedarfe sollten gezielt identifiziert werden, dafür habe man repräsentative Studien zurate gezogen. 

Zusammenfassende Impulse für die Weiterentwicklung der Familienpolitik: Zeit zur Erholung, neue Arbeitszeitmuster etablieren, Zeit für Sorgearbeit beider Geschlechter, Leistungen für Familien mit geringerem Einkommen und die Reduktion von Kinderarmut. Die Infrastruktur soll nicht nur wiederhergestellt, sondern weiterentwickelt werden. Sie soll verlässlicher, zielgruppenspezifischer, regionalspezifisch und digital sein.

Podiumsdiskussion

Dr. Daniel Deckers (FAZ) moderiert die Diskussion führt ins Thema ein. Auf dem Podium diskutieren Mitglieder des Wissenschaftlichen Beirats: Prof. Dr. Sabine Andresen (Institut für Sozialpädagogik und Erwachsenenbildung, Universität Hildesheim, Mitautorin der JuCo-Studie) betonte, dass Jugendliche auch Bedürfnisse unabhängig von Familie haben. Durch die Pandemie sei ein Mangel an Beteiligung und Gehör für Jugendliche entstanden und die Zukunftsängste deutlich gestiegen, insbesondere bei Jugendlichen mit einem Mangel an Geld, Raum „zum Abhängen“ und Freizeitaktivitäten.

Prof. Dr. Claudia Diehl (Universität Konstanz) konstatierte massive Nachteile für Einwanderinnen und Einwanderer durch die Pandemie, insbesondere für diejenigen, die in den letzten Jahren erst eingereist sind. Prof. Dr. Michaela Kreyenfeld (Soziologin, Berlin) hat sich mit Rollenbildern und Familientraditionen befasst und hatte einen „Roll-Back“ ins alte Rollenmodell zu Beginn der Pandemie befürchtet. Dass dies nicht ganz so schlimm ausgefallen sei, läge auch an politisch geschaffenen Strukturen. Männer in Kurzarbeit hätten diese Zeit auch für die Familien genutzt.

Prof. Jörg M. Fegert (Uniklinik Ulm) hat sich andere Epidemien und psychosoziale Folgen wissenschaftlich angeschaut. Hier sei es nötig „sehr geplant Dinge zu unternehmen“. Vieles, was gut lief, sei eher auf Basis persönlichen Engagements gelaufen, exemplarisch nennt er hier Einsatz von Schulbegleiter:innen auch da, wo kein Unterricht mehr stattgefunden hat. Unterstützungsinfrastruktur sei in der Jugendhilfe wichtig, wäre aber weitestgehend weggebrochen, er weist explizit auf erhöhte Raten von sexuellem Missbrauch und häuslicher Gewalt während der Lockdowns hin. Daniel Deckers fasste zusammen, dass alle Beteiligten Problembereiche benannt haben, die im Vorfeld schon da waren, sich durch die Pandemie jedoch verstärkt haben. Prof. Jörg M. Fegert nutzte die Metapher des „Brennglases“, die Hilfen müssten in jedem Fall besser organisiert und vernetzt werden. Prof. Sabine Andresen wiederholte die Forderung nach einer Kindergrundsicherung und verwies auf Studienergebnisse des Deutschen Jugendinstituts (DJI).

Dr. Daniel Deckers hinterfragte kritisch den großen Umfang des BMFSFJ („Ministerium für Familien und Gedöns“) und fragte: „Hat die Politik den Schuss nicht gehört“. Prof. Sabine Andresen kritisierte den Fokus auf „Aufholen“ des entstandenen Bildungsdefizites, das erhöhe den Druck. Es ginge auch um Erholung und soziale Unterstützung, das sehe sie noch nicht, dass die Unterstützungsinfrastruktur ankomme. Viele Jugendliche haben in den Studien angegeben, dass sie auf ihre Rolle als Schülerinnen und Schüler reduziert werden.

Aus dem Publikum kamen die erste Fragen von der Stiftung Bildung. „Familien haben nicht genug Lobby, das ist von der Politik selbst verschuldet“, sie plädierte dafür, dass man Vertretungsstrukturen stärkt. Aus dem Bereich der Kinder- und Jugendrehabilitation wird zurückgemeldet, dass der Zugang zu notwendigen Hilfen schwierig sei – erst finde man die passenden Hilfen nicht und dann seien sie wegen langer Wartezeiten nicht verfügbar. Die Sprecherin der Bundeselternschaft KiTa wies auf die Bedeutsamkeit von gemeinsamen Räumen und die Befriedigung basaler Bedürfnisse hin und betonte die Wichtigkeit von Primärprävention. Vonseiten des Müttergenesungswerkes wurde die Sorge um Mütter und Väter benannt, auch hier gäbe es Studiendaten, ein Viertel aller Mütter seien kurbedürftig, dem gegenüber stünden 50.000 Plätze, die Einrichtungen seien unterfinanziert, auch hier zeige sich die Wertigkeit von Familien. Die Vertreterin von UNICEF-Deutschland teilte den Eindruck, dass die Beteiligung von Kindern und Jugendlichen unzureichend sei. Auch Fragen nach kurzfristiger Linderung z. B. für verunsicherte Kinder durch positive Tests in Schulen wurden laut. Die Diskutantinnen und Diskutanten bestätigten die benannten Probleme als Herausforderungen der Gegenwart. Unser Bildungssystem sei „komplex“ (Prof. Michaela Kreyenfeld), wir „können nicht Krise“ (Prof. Jörg M. Fegert). Auch per Mail konnte Stellung genommen werden, scharfe Kritik gab an dem 20-Euro-Zuschlag – das sei erst recht mit der Gießkanne und helfe niemandem substanziell.

Abschließend sollen die Expertinnen und Experten u. a. Stellung dazu nehmen, ob sie es für günstig hielten, die nächsten beiden Schuljahre auf jeweils 1,5 Jahre zu erhöhen, um Druck sowie Personal- und Raumengpässe zu reduzieren. Sinnvolle kurzfristige Maßnahme könnte sein, aktiv mit Kindern über ihre Wünsche und Bedürfnisse zu sprechen, so Prof. Sabine Andresen. Prof. Claudia Diehl forderte mehr Geld für Sprachkurse und Freizeitmöglichkeiten. Die Verlängerung der Schulzeit hält sie für wenig praktikabel, weil es am Ende Engpässe beim Uni-Zugang geben könnte. Prof. Michaela Kreyenfeld konstatierte, dass bürokratische Hürden immer noch zu hoch seien, sodass bereits theoretisch vorhandene Maßnahmen nicht greifen. Prof. Jörg M. Fegert wünschte sich, dass alle Ressorts einen Teil des Geldes nur ausgeben dürfen, wenn sie gemeinsam arbeiten.

Dr. Johanna Thünker