Berufsverband Deutscher Psychologinnen und Psychologen e. V.

Wenn Medizin allein nicht ausreicht… Unterstützungsmöglichkeiten der „Frühen Hilfen“ für (belastete) Familien

Am 18. Mai 2022 fand der Fachtag „Wenn Medizin allein nicht ausreicht…. Unterstützungsmöglichkeiten der „Frühen Hilfen“ für (belastete) Familien“ statt, veranstaltet von der Landeskoordinierungsstelle Frühe Hilfen des Ministeriums für Kinder, Familie, Flüchtlinge und Integration (MKFFI) des Landes Nordrhein-Westfalen mit zahlreichen Kooperations­partnern – u. a. der KVWL. Dr. Johanna Thünker hat teilgenommen und berichtet.

Cornelia Benninghoven – Journalistin und Moderatorin - führt ins Thema ein, es folgt ein Grußwort des Landesgesundheitsministers Karl-Josef Laumann. Er betont die Wichtigkeit der Vernetzung der Jugendhilfe mit der medizinischen Versorgung. Die Menschen sollen in ihrer Gesamtheit gesehen werden, dabei habe gerade die sprechende Medizin eine besondere Aufgabe.

Hauptvortrag I: Frühe Hilfen – welche präventiven Handlungsmöglichkeiten gibt es für die Praxis?

Désirée Freese (Landeskoordinierungsstelle Frühe Hilfen NRW) stellt zunächst grob die Arbeit der Landeskoordinierungsstelle vor. Sie ist zuständig für die Abwicklung des bundesweiten Förderverfahrens zu den Frühen Hilfen ebenso wie für die fachliche Begleitung in NRW. Sie arbeitet mit 88 Jugendämtern im Land zusammen, aber auch mit dem Gesundheitsressort. „Wir wollen alle das Gleiche: eine gesunde Entwicklung der Kinder“.

Frühe Hilfen werden relevant, wenn noch keine Kindeswohlgefährdung vorliegt, aber es den Kindern und Familien nicht gut geht. Sie können und sollen aus der ambulanten medizinisch/therapeutischen Versorgung initiiert werden, gerade da, wo isoliert Maßnahmen wie z. B. eine Verordnung von Ergotherapie nicht ausreichend sind. Auch wenn Eltern sehr unsicher sind (z. B. weil sie isoliert von anderen Eltern sind) oder die Infrastruktur für Familien fehlt (wo gibt es Hilfe für mein Problem? Überforderung mit Anträgen, Überlastung der Eltern), bieten die Frühen Hilfen Unterstützung an.

Es gibt zwei zentrale Säulen der Frühen Hilfen, die Lotsenfunktion und die Unterstützungsangebote. Lotsenangebote haben die Aufgabe der Ansprache, Bedarfsklärung und (systemübergreifende), Weitervermittlung – wenn nötig. Darunter fallen Willkommensbesuche für Neugeborene, Familienbüros und Elterncafés. In vielen Kommunen gibt es flächendeckend zumindest einen einmaligen Kontakt. Lots:innen können auch in Arztpraxen angebunden sein (z. B. pädiatrische Praxis). Die Unterstützungsangebote haben das Ziel der Bindungs- und Gesundheitsförderung, der Kompetenzstärkung, Entlastung und Vernetzung. Das beinhaltet Familienbegleitung durch Familienhebammen oder -krankenpfleger:innen sowie ehrenamtliche Begleitung und verschiedene Anlaufstellen und Kurse. Die Begleitung ist stets freiwillig und kann in ihrer Intensität je nach Bedarf stark variieren.

Frühe Hilfen richten sich grundlegend an alle (werdenden) Eltern mit Kindern von 0-3 Jahren, das gilt explizit für alle Eltern und soll nicht stigmatisierend sein. Gleichwohl sollen insbesondere diejenigen Familien erreicht werden, die (psychosozialen) Belastungssituationen erleben (vgl. Landesgesamt­konzept Frühe Hilfen 2019-2022, S. 7.). Die Wirksamkeit wird fortlaufend erforscht.

Das Netzwerk Frühe Hilfen besteht aus Gesundheitswesen, Kinder- und Jugendhilfe, Familienbildung, Schwangerschafts(konflikt)-beratung und Frühförderung unter Geschäftsführung des Jugendamtes. Angehörige der Heilberufe sind nach § 3 des Gesetzes für Information und Koordination im Kinderschutz (KKG) einbezogen. Die Netzwerke vor Ort haben unter anderem die Funktion, sich gegenseitig über die Bedarfe auszutauschen.

Frühzeitige Hilfe endet nicht mit den Frühen Hilfen, es gibt weitere Projekte (in NRW z. B. das Landesprogramm Kinderstark! ), allerdings sind Frühe Hilfen keine Regelleistungen des SGB V und SGB VIII, rechtliche Verankerung in §1 KKG), die Finanzierung erfolgt im Schwerpunkt über kommunale Eigenmittel und Bundesstiftung.

Hauptvortrag II: Warum sind Frühe Hilfen und das Vorgehen bei möglicher Kindeswohlgefährdung nicht das Gleiche?

Marco Cabreira da Benta, ebenfalls Mitarbeiter der Landeskoordinierungsstelle beim MKFFI, erläutert, dass die Entstehung der Frühen Hilfen eng mit der Kinderschutzdebatte verknüpft war. Aufgrund bekannt gewordener eskalierter Situationen wurde auch die Prävention ins Kinderschutzgesetz aufgenommen. Alle, die mit Kindern zu tun haben, sollen eine gewisse Aufmerksam auf dieses Thema lenken.

Er differenziert den Bedarf nach Unterstützung (z. B. Tageseinrichtung, Frühe Hilfen), Hilfen (z. B. Allgemeiner Sozialer Dienst des Jugendamtes (ASD), Hilfen zur Erziehung) und Interventionen (z. B. „Auflagen“ durch das Familiengericht, Inobhutnahme). Ein Anspruch auf Erziehungshilfen oder auch Wohngruppen u. ä. tritt dann ein, wenn „eine Erziehung zum Wohl des Kindes nicht gewährleistet ist (§ 27 SGB VIII), Interventionen – im Zweifel auch gegen die Wünsche der Erziehungsberechtigten - werden nötig, wenn das Wohl des Kindes gefährdet ist („Kindswohlgefährdung, §§ 1666 BGB, §§ 8a, b SGB VIII, § 4 KKG).

„Die Frühen Hilfen möchten authentisch Menschen erreichen, Hilfe in Anspruch zu nehmen, ohne dass eine staatliche Kontrolle im Hintergrund steht.“, das widerspräche einer Haltung, dass alles freiwillig bliebe, solange man einwillige. In der Praxis gibt es natürlich ebenso Grauzonen wie Situationen, die sich verändern und in denen ein Förderungsbedarf sich zu einer Kindeswohlgefährdung entwickelt, auf die reagiert werden muss. Er stellt verschiedene Informationsmaterialien vor, die Familien ausgehändigt werden können (www.fruehehilfen.de, bke-Elternberatung, www.chancen.nrw sowie Angebote der Kassenärztlichen Vereinigungen). Darüber hinaus kommt eine konkrete Weitervermittlung infrage, ein Instrument einiger Kommunen hierfür ist das sogenannte „grüne Rezept“.

Marco Cabreira da Benta ruft dazu auf, sich zu melden, um von der Landeskoordinierungsstelle mit dem Netzwerk in seiner Kommune in Kontakt gebracht werden zu können und stellt das Konzept der interprofessionellen Qualitätszirkel Frühe Hilfen (IQZ) vor. Diese werden von einer Person aus dem medizinischen System sowie einer Person aus der Jugendhilfe gemeinsam moderiert. Ziele sind auch hier passgenaue(re) Hilfen und Austausch.

Fragen & Diskussion

Parallel zu den Vorträgen erfolgte eine rege Diskussion im Chat. Die Angebote des öffentlichen Gesundheitsdienstes (ÖGD) werden unter die Lupe genommen, Axel Iseke (Landesgesundheits­zentrum NRW) beschreibt den ÖGD als „den Kinderarzt der Kommune“, dieser habe immer dann die Aufgabe zu unterstützen, wo die notwendige Unterstützung sonst fehlt. Er könne auch vermitteln zwischen den verschiedenen Stellen. Einige Teilnehmende stellen in Frage, ob Fortbildungspunkte ein echter Anreiz wären, an Netzwerktreffen und IQZ teilzunehmen. Kinderarzt Dr. Hans-Helmut Brill führt aus, dass die Teilnahme den eigenen Arbeitsalltag spürbar entlaste. Tina Schlüpmann, Netzwerkkoordinatorin im Kreis Lippe, ruft auf, dass sie zu Qualitätszirkeln eingeladen werden sollten, das mache am Anfang oft Angst, weil es gefühlt viel Arbeit mache – dem sei aber nicht so! „Engagiert euch bitte, die Kinder- und Jugendhilfe kann das nicht allein!“ Auch weitere Aktive aus dem medizinischen Sektor sowohl der Kinder- und Jugendhilfe berichten über ihre Erfahrungen und werben für Austausch und Zusammenarbeit, „eine Win-Win-Situation entsteht durch den Prozess, nicht durch eine einmalige Teilnahme“. Die Moderatorin zeigt sich positiv überrascht, dass sie keine ihrer vorbereiteten Fragen stellen konnte.

 

Zum Nachlesen

 

Dr. Johanna Thünker