In Deutschland sind rund 18 Mio. Menschen psychisch erkrankt. Bereits seit vielen Jahren sind psychische Erkrankungen mit Abstand die häufigste Ursache für Frühberentungen; sie verursachen zunehmend mehr Arbeitsunfähigkeitstage, vor allem bei jüngeren und bei erwerbstätigen Erwachsenen – und damit hohe Kosten für das Sozialsystem. Doch nicht einmal jede/r fünfte Betroffene befindet sich in Behandlung – über 80 Prozent bleiben unbehandelt [1]. Neben einer immer noch andauernden Stigmatisierung und mangelnder gesellschaftlicher Aufklärung liegt dies auch an den zum Teil sehr langen Wartezeiten für eine psychotherapeutische Behandlung. Jeder Mensch, der unter einer behandlungsbedürftigen psychischen Erkrankung leidet, sollte eine zeitnahe und passgenaue Behandlung erhalten können.
Unsere Forderungen auf einen Blick:
- Niederschwelliger Zugang und Steuerung durch Psychotherapeut*innen: Die Psychotherapeutische Sprechstunde muss als verbindliches, niedrigschwelliges Steuerungsinstrument erhalten und gestärkt werden – mit überweisungsfreiem Erstzugang.
- Kürzere Wartezeiten: Zulassungen niedergelassener Psychotherapeut*innen müssen sich am realen Bedarf orientieren, Kinder- und Jugendliche sind separat zu planen; Abrechnungsdaten außervertraglicher Psychotherapie müssen berücksichtigt werden.
- Anpassung der PPP-RL: Im stationären Bereich muss eine leitliniengerechte Behandlung durch approbierte Psychotherapeut*innen mit Fachkunde gewährleistet sein. Dazu sind zusätzlich die Minutenwerte der psychotherapeutischen Maßnahmen auszubauen und die Vorgaben der PPP-Richtlinie anzupassen.
- Sektoren- und bereichsübergreifende Kommunikation: Schnittstellen und Vernetzungsmöglichkeiten zwischen den Versorgungsbereichen und Sektoren in der Regelversorgung müssen geschaffen und vergütet werden.
- (Geregelte) Finanzierung der psychotherapeutischen Weiterbildung: Die Finanzierung der psychotherapeutischen Weiterbildung muss für alle Weiterbildungsbereiche gesetzlich geregelt werden.
- Angemessene Vergütung in der Ausbildung: Psychotherapeut*innen in Ausbildung sind während der Übergangszeit gemäß ihres Grundberufs zu vergüten.
- Digitalisierung mit Augenmaß: Die Digitalisierung soll vorangetrieben werden. Psychotherapie bleibt dabei Heilkunde, die wissenschaftlichen Leitlinien und einer individuellen Indikation durch Psychotherapeut*innen unterliegen muss.
Die Rolle von Psychotherapeut*innen in der Versorgung
An der Versorgung psychisch erkrankter Menschen nehmen Psychologische Psychotherapeut*innen, Kinder- und Jugendlichen-Psychotherapeut*innen sowie qualifizierte Fachärzt*innen teil. Das Herzstück der ambulanten psychotherapeutischen Versorgung ist die genehmigungspflichtige und verfahrensgebundene Kurz- und Langzeit-Psychotherapie im Einzel- und Gruppensetting.
Für eine zeitnahe Versorgung können Patient*innen in einer psychotherapeutischen Akutbehandlung mit reduziertem bürokratischem Aufwand versorgt werden. Die Gruppenpsychotherapeutische Grundversorgung ist eine kurzfristige Hilfe bei psychischen Belastungen und unterstützt die Klärung, ob eine Gruppenpsychotherapie helfen kann.
Um die vorhandenen Ressourcen effizienter nutzen zu können, müssen diese zielgenau eingesetzt werden. Voraussetzung dafür ist die qualifizierte Diagnostik und Indikationsstellung im Rahmen der Psychotherapeutischen Sprechstunde, einem niedrigschwelligen Angebot zur zeitnahen Erstabklärung. Die Psychotherapeutische Sprechstunde ist somit das originäre Steuerungsinstrument in der Hand der Psychotherapeut*innen. Auch in einem primärärztlichen Versorgungssystem muss der überweisungsfreie Erstzugang zur psychotherapeutischen Versorgung ermöglicht werden.
Allerdings: In Regionen, in denen die Kapazitäten in den psychotherapeutischen Praxen mehr als ausgeschöpft sind, führt eine solche Sprechstunde allenfalls zu enttäuschten Hoffnungen, da im Anschluss oftmals kein Therapieplatz vorhanden ist. Eine indizierte und empfohlene Behandlung muss auch verfügbar sein!
Ambulant vor stationär
Grundsätzlich ist eine ambulante Behandlung einer stationären vorzuziehen, wann immer dies möglich ist, denn ein stationärer Aufenthalt ist oft um ein Vielfaches kostenintensiver als eine ambulante Behandlung. Der Behandlungserfolg ist aufgrund einer häufig fehlenden nahtlosen ambulanten Weiterbehandlung oftmals gefährdet, da die Zeit nach einer stationären Entlassung mit Risiken einer Wiederverstärkung von Symptomen verbunden ist. Kostspielige stationäre Aufenthalte könnten bei ausreichend zeitnahen ambulanten Kapazitäten somit deutlich verringert werden.
Wartezeiten verkürzen
Die Wartezeit auf einen ambulanten Therapieplatz beträgt im Bundesmittel rund 20 Wochen, Tendenz steigend [2]. Die zumutbare Wartezeit für eine Richtlinienpsychotherapie sollte aus fachlicher Sicht jedoch acht, maximal 12 Wochen nicht überschreiten, um eine Chronifizierung zu verhindern – und zwar flächendeckend, auch in strukturschwachen ländlichen Regionen! Neben der Reduktion menschlichen Leids führt eine bedarfsgerechte Versorgung zu Einsparungen in anderen Sektoren des Sozialsystems, die die Behandlungskosten mehr als kompensieren [3]. Dies gilt insbesondere für die große Gruppe der mittelschwer Erkrankten [4], bei denen eine frühzeitige ambulante Behandlung die Gefahr der Chronifizierung [5, 6] und somit auch Folgekosten (durch z. B. somatische Folgeerkrankungen, lange AU-Zeiten, Frühberentungen) sowie Folgen für Kinder und Angehörige reduzieren kann. Um dies zu ermöglichen, muss bei der Bedarfsplanung dringend nachjustiert werden. Die Verteilung der Kassensitze muss am realen Bedarf orientiert sein. Um diesen zu erfassen, müssen Krankenkassen auch offenlegen, wie viele Patient*innen (zusätzlich zur regulären Behandlung im GKV-System) im Rahmen der außervertraglichen Psychotherapie gemäß § 13 Abs. 3 SGB V behandelt werden.
Ressourcen des Systems nutzen
Die Versorgung psychisch Erkrankter Menschen erfolgt neben der Behandlung in Kassenpraxen auch in Privatpraxen im Rahmen der außervertraglichen Psychotherapie. Jedoch ist seit Einführung der Terminservicestellen dieser Weg für Betroffene erschwert, weil die Auslegung der gesetzlichen Grundlage durch Krankenkassen bzw. der Medizinische Dienst sehr heterogen ist. Die Erfahrung zeigt, dass dieser die Terminservicestellen vermehrt als Ablehnungsgrund für eine außervertragliche Psychotherapie gem. § 13 Abs. 3 SGB V benennen. Mit Einführung der Terminservicestellen wurden jedoch die Behandlungskapazitäten innerhalb des GKV-Systems nicht erweitert und die Versorgungslage damit nicht verbessert. Es bedarf hier einer Konkretisierung der bestehenden Rechtsgrundlage.
Verbesserung der stationären Versorgung
In den psychiatrischen und psychosomatischen Kliniken werden diejenigen Patient*innen behandelt, die am schwersten erkrankt sind. Voraussetzung für eine leitliniengerechte Behandlung dort ist eine hinreichende Zahl qualifizierter Psychotherapeut*innen. Um dies zu ermöglichen, müssen diese zum einen im Stellenplan gemäß der „Personalausstattung Psychiatrie und Psychosomatik-Richtlinie“ (PPP-RL) zwingend vorgesehen werden. Zum anderen müssten gerade für Regel- und Akutstationen psychiatrischer Krankenhäuser die Vorgaben der geltenden Personalrichtlinie PPP-RL angepasst werden, um eine leitliniengemäße Behandlung zu ermöglichen. Aktuell sind dort im Durchschnitt nur ca. 30 Minuten psychotherapeutische Behandlung pro Woche und pro Patient*in vorgesehen.
Effizienz steigern durch Vernetzung
Die Versorgung psychisch erkrankter Menschen könnte deutlich verbessert werden, wenn die verschiedenen Versorgungsbereiche und Sektoren besser vernetzt wären. Eine rasch umsetzbare, effiziente und längst überfällige Lösung ist der Aufbau grundsätzlicher Schnittstellen zwischen den Sektoren sowie die Möglichkeit, dass Behandelnde sich bei Bedarf fallbezogen koordinieren können − und das flächendeckend in der Regelversorgung.
Hierfür bedarf es in der Regelversorgung Kooperations- und Koordinationsziffern. Ein multiprofessioneller Behandlungsbedarf besteht auch bei vielen Patient*innen in der Regelversorgung, selbst wenn diese die Kriterien für die sogn. berufsgruppenübergreifende Komplexversorgung nicht vollständig erfüllen oder vor Ort kein Platz in einem Versorgungsnetz nach der neuen „Komplex“-Richtlinie (KV Psych-RL) verfügbar ist.
Digitalisierung mit Augenmaß
Die Digitalisierung in Deutschland hat weitreichende Auswirkungen auf nahezu alle Bereiche der Gesellschaft. Auch für die psychotherapeutische Versorgung gibt es durch Videosprechstunden, Digitale Gesundheitsanwendungen (DiGAs) und Künstliche Intelligenz neue Möglichkeiten. Dabei darf jedoch nicht vergessen werden, dass es sich bei Psychotherapie um Heilkunde handelt, die wissenschaftlichen Leitlinien und einer individuellen Indikation für die einzelne betroffene Person entsprechen muss. Onlineanwendungen dürfen nicht vorrangig zur Kostenreduktion eingesetzt werden. Berufsethischen Standards und Qualitätsanforderungen müssen auch bei den digitalen Instrumenten und bei Anwendung der KI gelten.
Der Präsenzkontakt sollte der Goldstandard bleiben. Ein Blended Care Vorgehen muss sorgfältig indiziert sein. Psychotherapeut*innen sollen bei der Entwicklung und bei der wissenschaftlichen Untersuchung digitaler Therapieanwendungen einbezogen werden.
Nachwuchs sichern
Aktuell besteht zwar noch kein akuter Fachkräftemangel, mittelfristig ist es jedoch nötig, dass gut qualifizierter Nachwuchs nachrückt. Das Psychotherapie-Ausbildungsreformgesetz von 2019 sollte die prekären Ausbildungsbedingungen von Psychotherapeut*innen verbessern. Nun gibt es ein neues Weiterbildungskonzept analog dem ärztlichen System. Es gibt erste Studienabsolvent*innen, die die Weiterbildung antreten wollen, aber aufgrund fehlender Finanzierungsregelungen existieren so gut wie keine Weiterbildungsstellen. Diese müssen dringend gesetzlich geregelt werden, und zwar sowohl für die Weiterbildung in Kliniken und Ambulanzen als auch in Praxen und Institutionen. Nur so kann ein zunehmender Fachkräftemangel verhindert und die psychotherapeutische Versorgung der Bevölkerung langfristig gesichert werden. Und auch diejenigen Psychotherapeut*innen in Ausbildung, die bis 2032 nach der Übergangsregelung ihre Ausbildung absolvieren, dürfen nicht vergessen werden.
Verantwortung übernehmen!
Anders als in einigen Facharztgruppen gibt es im Bereich der Psychotherapie aktuell keinen Fachkräftemangel. Die Psychotherapeut*innenschaft ist fachlich in der Lage und bereit, Verantwortung in der Versorgung und deren Gestaltung zu übernehmen. Wir fordern die Regierungskoalition auf, den Koalitionsvertrag umgehend umzusetzen und damit der von ihr selbst ja bereits identifizierten gesellschaftlichen Verantwortung bei der Versorgung von psychischen Erkrankungen nachzukommen.
Ansprechpartnerin: Dipl.-Psych. Dr. Johanna Thünker (Diese E-Mail-Adresse ist vor Spambots geschützt! Zur Anzeige muss JavaScript eingeschaltet sein!
Der Berufsverband Deutscher Psychologinnen und Psychologen e.V. (BDP) vertritt die beruflichen Interessen über 10.000 niedergelassener, selbstständiger und angestellter/ beamteten Psychologinnen und Psychologen aus allen Tätigkeitsbereichen. Als der anerkannte Berufs- und Fachverband der Psychologinnen und Psychologen ist der BDP Ansprechpartner und Informant für Politik, Medien und die Öffentlichkeit.
Quellenverzeichnis
[1] Mack, S., Jacobi, F., Gerschler, A., Strehle, J., Höfler, M., Busch, M.A., Maske, U.E., Hapke, U., Seiffert, I., Gaebel, W., Zielasek, J., Maier, W., & Wittchen, H.U. (2014). Self reported utilization of mental health services in the adult German population – evidence for unmet needs? Results of the DEGS1MentalHealthModule (DEGS1MH). International Journal of Methods in Psychiatric Research, 23:289–303. DOI: 10.1002/mpr.1438
[2] Deutscher Bundestag (2022). Wartezeit auf eine Psychotherapie. Studien und Umfragen. Herausgeber: Wissenschaftliche Dienste des dt. Bundestages. Online verfügbar: https://www.bundestag.de/resource/blob/916578/53724d526490deea69f736b1fda83e76/WD-9-059-22-pdf-data.pdf
[3] Wittmann, W.W., Lutz, W., Steffanowski, A., Kriz, D., Glahn, E.M., Völkle, M.C., Böhnke, J.R., Köck, K., Bittermann, A., & Ruprecht, T. (2011). Qualitätsmonitoring in der ambulanten Psychotherapie: Modellprojekt der Techniker Krankenkasse - Abschlussbericht. Hamburg: Techniker Krankenkasse. Online verfügbar: https://api.bptk.de/uploads/TK_Abschlussbericht_Qualitaetsmonitoring_in_der_ambulanten_Psychotherapie_474b2bbc7e.pdf
[4] DGPPN (2018). Dossier: Psychische Erkrankungen in Deutschland: Schwerpunkt Versorgung. Online verfügbar unter: https://www.dgppn.de/_Resources/Persistent/f80fb3f112b4eda48f6c5f3c68d23632a03ba599/DGPPN_Dossier%20web.pdf
[5] Kautzky, A., Dold, M., Brtova, L., et al. (2019). Clinical factors predicting treatment resistant depression: affirmative results from the European multicenter study. Acta Psychiatrica Scandinavia, 139: 78–88. DOI: 10.1111/acps.12959.
[6] Kraus, C., Kadriu, B., Lanzenberger, R., Zarate, C.A., & Kasper, S. (2020). Prognosis and improved outcomes in major depression: a review. Translational Psychiatry, 9:127. DOI: 10.1038/s41398-019-0460-3