Kurz vor ihrem 95. Geburtstag starb Margarete Mitscherlich, die als die Grande
Dame der Psychoanalyse galt, am 12. Juni 2012 in Frankfurt. Sie war bis zuletzt
aktiv, auch wenn sie einen Rollator benötigte. Bis ins hohe Alter hielt
sie analytische Sitzungen und im Herbst 2010 schrieb sie ein Buch mit dem Titel "Die
Radikalität des Alters". Daraufhin war der Andrang auf ihre Lesung
im Bonner Landesmuseum so groß, dass die Türen offen bleiben mussten,
um den zahlreichen Zuhörern vor der Tür auch gerecht zu werden, die
keine Karte mehr bekommen hatten.
Sie kam als Margarete Nielsen am 17. Juli 1917 in Südostjütland/Dänemark
zur Welt. Ihre Eltern waren ein dänischer Arzt und eine deutsche Lehrerin.
Sie bestand 1937 in Flensburg das deutsche Abitur und studierte zunächst
Literatur und dann Medizin in München und Heidelberg, wo sie 1944 ihr Staatsexamen
machte.
1947 begegnete sie dem 9 Jahre älteren Psychoanalytiker Alexander Mitscherlich
in der Schweiz, der noch verheiratet war. Sie bekam 1949 von ihm einen unehelichen
Sohn, was damals als untragbar galt. Das Kind wurde von ihrer Mutter erzogen
und sie promovierte im Jahr darauf in Tübingen und forschte gemeinsam mit
Alexander Mitscherlich. 1955 heiratete das Paar. In den fünfziger Jahren
absolvierte Margarete Mitscherlich in Heidelberg, Stuttgart und London für
ein Jahr bei Michael Balint ihre psychoanalytische Ausbildung.
Schließlich veröffentlichte das Forscherpaar Mitscherlich 1967 seine
bekannte Studie über "Die Unfähigkeit zu trauern. Grundlagen kollektiven
Verhaltens", die Psychoanalyse und Gesellschaftskritik der deutschen Nachkriegsgesellschaft.
Sie kritisierten das Leugnen und Verdrängen des Holocausts und forderten
ein Bewusstmachen und Durcharbeiten. Das Buch wurde zum Bestseller über
das kollektive Verdrängen der Deutschen und inspirierte auch die Studentenbewegung.
Margarete Mitscherlich war auch Feministin und stand der Frauenbewegung nahe.
1985 setzte sie sich in ihrem Buch, "Die friedfertige Frau" mit der
Rolle der Frau auseinander. Sie vertrat die These, dass Frauen nicht von
Natur aus weniger aggressiv als Männer seien, sondern ihr angeblich friedfertiges
Wesen nur erlernt haben.
Margarete Mitscherlich war viele Jahre am Sigmund-Freud-Institut in Frankfurt
(Nachruf) tätig, gab lange Jahre die Zeitschrift Psyche heraus und engagierte
sich in der Deutschen psychoanalytischen Vereinigung (DPV).
Eine bedeutende Aufklärerin und Intellektuelle, die die analytische Psychotherapie
nach dem 2. Weltkrieg wieder nach Deutschland geholt hat, lebt nicht mehr.
18.6.2012